Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Hier wird das Problem des zunehmend mangelhaften Schutzes der Bürger vor Gewalttaten und dessen verfassungsrechtliche Relevanz erörtert. (Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 GG)

Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Fr 10. Jun 2016, 05:55

Dieser aktuelle Fall wird derzeit im Netz - auch unter Juristen - sehr kontrovers diskutiert:

Strafrechtler sieht Aktion in Arnsdorf nicht durch "Jedermann-Festnahmerecht" gedeckt

(...)

In Arnsdorf bei Radeberg hatten vier Männer am 21. Mai 2016 einen Asylbewerber mit Kabelbindern an einen Baum gefesselt. Der Iraker, der Patient im örtlichen Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie war, hatte zuvor offenbar mehrfach versucht, eine leere Telefonkarte in einem Supermarkt zu reklamieren. Dabei kam es zum Streit mit dem Personal. Zuvor hatte die Polizei den Asylbewerber zweimal zur Klinik zurückgebracht. Die vier Männer gaben bei der Polizei an, sie hätten eine Gefahrensituation abwenden und den Asylbewerber an der Flucht hindern wollen.

(...)


http://www.mdr.de/sachsen/arnsdorf-stra ... f6b3d.html

Auf dem Facebook - Profil von RA Schmitz dazu geschrieben:

Joachim Renzikowski (* 5. April 1961 in Erlangen) ist ein deutscher Jurist.

Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Erlangen (1. und 2. Juristisches Staatsexamen 1986 bzw. 1989) wurde er 1993 an der Universität Tübingen mit einer Dissertation über Notstand und Notwehr promoviert und er habilitierte sich dort 1997.

(...)


https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Renzikowski

Für einen Spezialisten in Sachen Notstand und Notwehr ist die Argumentation in dem Interview etwas schwach.

Der Herr Professor hätte das Laienpublikum wirklich nicht darüber im Unklaren lassen dürfen, dass das Hausrecht notwehr - bzw. nothilfefähig ist und ein offensichtlich vorliegender Hausfriedensbruch auch für das Festnahmerecht nach 127 StPO reicht.

Richtig ist in der Stellungnahme allerdings, dass das Festnahmerecht nicht besteht und deshalb eine Freiheitsberaubung vorliegt, wenn der Täter zuvor bereits von der Polizei überprüft worden war, seine Personalien also bekannt sind.
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon maxikatze » Fr 10. Jun 2016, 08:22

Alex schrieb:
Für einen Spezialisten in Sachen Notstand und Notwehr ist die Argumentation in dem Interview etwas schwach


Die Situation hätte nicht erst soweit kommen müssen.
Da der Asylbewerber keinerlei Anstalten machte, den Laden zu verlassen, hätte das Verkaufspersonal rechtzeitig die Polizei verständigen müssen und nicht erst nach längeren Wortgefechten, als die Sache drohte aus dem Ruder zu laufen.
Ich finde es zwar richtig, dass der Gesetzgeber erlaubt, einen Täter festzuhalten bis die Polizei eintrifft, aber in diesem Fall kann ich die Argumente des o.g. Rechtsanwalts ebenso nachvollziehen. Weil der Täter nicht flüchten wollte, finde ich die Aktion mit den Kabelbindern überzogen. Dass die Sache eskalierte - daran sind die anderen Beteiligten nicht ganz unschuldig.
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon Sonnenschein+8+ » Fr 10. Jun 2016, 17:37

maxikatze hat geschrieben:Alex schrieb:
Für einen Spezialisten in Sachen Notstand und Notwehr ist die Argumentation in dem Interview etwas schwach


Die Situation hätte nicht erst soweit kommen müssen.
Da der Asylbewerber keinerlei Anstalten machte, den Laden zu verlassen, hätte das Verkaufspersonal rechtzeitig die Polizei verständigen müssen und nicht erst nach längeren Wortgefechten, als die Sache drohte aus dem Ruder zu laufen.
Ich finde es zwar richtig, dass der Gesetzgeber erlaubt, einen Täter festzuhalten bis die Polizei eintrifft, aber in diesem Fall kann ich die Argumente des o.g. Rechtsanwalts ebenso nachvollziehen. Weil der Täter nicht flüchten wollte, finde ich die Aktion mit den Kabelbindern überzogen. Dass die Sache eskalierte - daran sind die anderen Beteiligten nicht ganz unschuldig.


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so sehe ich es auch und in etwa so habe ich es auf meiner FB Seite geschrieben
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Di 12. Jul 2016, 23:37

Auf Facebook gesehen und kommentiert:

Erstes Urteil nach Oktoberfest-Schlägerei

Sieben Monate Frei­heits­strafe für Ex-Lin­kla­ters Partner

Bild

Nach der Auseinandersetzung auf der Oktoberfest-Feier zwischen zwei damaligen Linklaters-Partnern gibt es ein erstes Urteil für den angeblichen Schläger: sieben Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung, 150 Arbeitsstunden und eine Geldauflage.

(...)

Partner E. soll Champagner bestellt haben, eine Studentin aus dem Team von S. soll sich ein Glas erbeten haben, danach begab man sich gemeinsam in den Wirtsgarten. Dort soll es zu Intimitäten zwischen dem Partner und der Studentin gekommen sein – ob einvernehmlich oder nicht, ist bisher nicht geklärt. Später gab es eine tätliche Auseinandersetzung zwischen E. und S., die Grund für die nun erfolgte Verurteilung durch das AG München war.

(...)

S. erstattete Anfang 2015 Strafanzeige gegen E., wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung.

(...)

Der Streit zwischen den damaligen Partnern soll sich nach Medienberichten damals daran entzündet haben, dass sich E. der Studentin nach den Intimitäten im Garten erneut genähert haben soll. Diese soll geweint haben, es heißt, E. habe das Lokal, in dem die Feier stattfand, trotz angeblicher mehrfacher Aufforderung nicht verlassen wollen. Partner S. schlug daraufhin nach Erkenntnissen des AG München drei Mal mit der Faust zu, E. habe Gesichtsverletzungen erlitten.

(...)


http://www.lto.de/recht/kanzleien-unter ... toberfest/

Vielleicht hat der Anwalt den Einspruch gegen den Strafbefehl auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt, weil er wusste, dass das in Deutschland geltende Notwehrrecht in München praktisch aufgehoben ist und er die Richter nicht provozieren wollte:

http://www.heise.de/tp/artikel/31/31167/1.html

Ich halte das für einen Fehler. Auch wenn der zuständige 1. Senat dafür berüchtigt ist, das es jeden Dreck durchwinkt, kann man diese notorische Rechtsbeugerei immer noch vor das BVerfG und notfalls den EGMR bringen.

Wenn nicht einmal ein persönlich betroffener Top - Anwalt die damit verbundenen Mühen und Risiken auf sich nehmen will, muss man sich nicht wundern, dass sich überhaupt kein Angeklagter findet, der das schmutzige Spiel endgültig abstellt.
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Mo 25. Jul 2016, 13:00

Der Held von Reutlingen war sich offenbar nicht darüber im Klaren, welche rechtlichen Risiken er einging. Eine Notwehrlage war kaum gegeben, weil (noch) kein neues Opfer in Sicht war und das "Jedermannn - Festnahmerecht" nach § 127 StPO erlaubt keine lebensgefährlichen Zwangsmittel, weil es nur die Strafverfolgung ermöglichen soll, weshalb die Grenzen der Verhältnismäßigkeit da eng gezogen sind. Der Sachverhaltsdarstellung der Polizei würde sich sehr wahrscheinlich jeder Anwalt, der den Helden verträte, anschließen:

1 TOTE, 5 VERLETZTE

Er stoppte den Messer-Mann von Reutlingen

(...)

Die Polizei geht dagegen von einem „ganz normalen Verkehrsunfall“ aus. Polizeihauptkommissar Christian Wörner (53) zu BILD: „Der Täter lief dem Mann zufällig vors Auto. Wäre das nicht der Fall, wäre das ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, weil der Fahrer nichts von der gefährlichen Situation wissen konnte.“

(...)


http://www.bild.de/regional/stuttgart/r ... .bild.html
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Do 8. Sep 2016, 15:11

Vielleicht sollte man lieber über Notwehr an der Wahlurne nachdenken und die Leute in die Wüste schicken, die 1-Euro - Jobber ohne pädagogische Ausbildung Pausenaufsicht an Schulen führen lassen. :evil:

8.9.2016

Richter billigen Ohrfeige von der Klassenaufsicht

Dürfen die Betreuer in einer Ganztagesschule ihre Schützlinge ohrfeigen? Unter Umständen ja, meint zumindest das Oberlandesgericht Düsseldorf. Die Richter sprachen jetzt einen Ein-Euro-Jobber vom Vorwurf der Körperverletzung frei.
Der als Schulhofaufsicht eingesetzte Mann war von den spielenden Kindern, die ihn auch bedrängten, so genervt, dass er einem Erstklässler zur Abschreckung aller anderen eine runterhaute. Das ist durch Notwehr gerechtfertigt und somit ok, befindet das Oberlandesgericht Düsseldorf in einer bemerkenswerten Entscheidung.

(...)


https://www.lawblog.de/index.php/archiv ... naufsicht/
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon Uel » Fr 9. Sep 2016, 12:58

Ohrfeige scheint ohnehin ein relativer Begriff zu sein. In jeder 2ten US-Schnulze darf jede starke Frau, die sich von einem Mann ungerecht behandet fühlt, in einem Lokal dem Mann eine scheuern oder ihm das nächst greifbare Getränk ins Gesicht schütten, darauf rechnend, wenn zurück gescheuert oder geschüttet würde, die andern Gäste etwas ganz großes Frauenverachtendes daraus machen würden. Ich glaube, wir sind noch weit weg von der echten Emanzipation, was sowohl Männlein als auch Weiblein angeht.

Oder bei einem großen Unglück in den Medien, der archaische, vermehrungsorientierte Body-Count: xx Tote, davon yy Frauen und zz Kinder. Ich habe noch niemals vernommen, dass diese Rechenaufgabe mit einer anderen Unbekannten gestellt wurde als mit den Männern. :lol:

anderer Aspekt: Erlebnis in einem überfüllten Regionalbus: ein Strolch, ca 10 Jahre alt, drangsaliert als Wortführer immer wieder einen offensichtich Schwächeren und daher Schüchternen, -durch Knuffen, Schubsen und Kopfnüssen. Als es mir zu bunt wurde und ich mich vor ihm aufbaute, bekomme ich von ihm, dem gerade noch körperlich Aktiven gegen einen anderen,- eine juristische Belehrung, was ich ihm gegenüber alles nicht dürfe! Also das Übliche: man selbst darf, andere aber niemals. Dieses Bürschlein war offensichtlich ein gut Lernender für die gesellschaftliche Gewinnerstraße.
Liebe Grüße
von Uel

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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Mo 12. Dez 2016, 16:10

Von wegen "Rücktritt vom Versuch" ...

Berlin-Wedding

Warum sind sechs Stiche in die Brust kein Mordversuch?

In einer Weddinger Wohnung sticht ein Mann sechs Mal auf seine 34-jährige Frau ein, die liegt im Koma. Die Polizei nennt es aber nur "gefährliche Körperverletzung."

(...)

Weil er vor der Flucht noch einem Nachbarn Bescheid sagte, wertet die Staatsanwaltschaft die Messerstiche nicht als Mordversuch. Geregelt sei das im Paragraf 24 des Strafgesetzbuches (Rücktritt von der Tat): „Indem der Mann den Nachbarn informierte, verhinderte er Vollendung der Tat“, erklärt Justizsprecher Martin Steltner.

(...)


http://www.bz-berlin.de/berlin/mitte/wa ... ordversuch

Nach 6 Stichen in die Brust wollte der Kerl mit der Benachrichtigung des Nachbarn wohl eher bewirken, dass sich jemand um die Bestattung kümmert.

Der Rücktritt vom Versuch ist im § 24 StGB geregelt:

§ 24
Rücktritt


(1) Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern.

(2) Sind an der Tat mehrere beteiligt, so wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die Vollendung verhindert. Jedoch genügt zu seiner Straflosigkeit sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern, wenn sie ohne sein Zutun nicht vollendet oder unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird.


https://dejure.org/gesetze/StGB/24.html
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon Uel » Mi 14. Dez 2016, 11:45

... ich denke, nur mit dem sofortige Absetzen eines Notrufs unter der allgemeinbekannten Nummer 112 hätte überhaupt eine Milderung der Tat in Betracht kommen können, alles andere ist Rechtsbeugung. Jeder lernt im 1.Hilfekurs ect. das nach Eigensicherung, was in diesem Fall wohl nicht in Betracht kommt, die 112 der nächste Schritt ist. In Zukunft wird ein Täter bei seiner Oma vorbeifahren und es beichten, die dann tätig wird und sein Anwalt wird es als Milderungsgrund anführen, ---- man könnt sich totlachen über dieses Absurdistan, wenn es nicht so traurig wär!

Gibt es keinen Tatbestand der Opferverhöhnung, mit dem man alle Prozessbeteiligten überziehen könnte? Was sagen die Menschenrechte der Opfer zu soetwas?
Liebe Grüße
von Uel

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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Mi 14. Dez 2016, 13:50

So einen Tatbestand gibt es nicht. Schließlich verhöhnen die für die Rechtssetzung und Anwendung zuständigen Personen selbst gerne mal Verbrechensopfer.
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