AsylwesenEine Million Franken pro Flüchtling Die Schweizer Asylpolitik scheitert an den Missständen, die sie mitverursacht.
Im Volk regt sich Unmut, doch die Behörden sind an einer offenen Debatte nicht interessiert.
Wer Kritik übt, gilt als Fremdenfeind.
Von Markus Schär
Das Schimpfwort, das dem Freisinnigen Jean-Claude Gerber im Gemeindeparlament von Ostermundigen herausrutschte, sucht man im Ratsprotokoll vergeblich; dort steht nur «... (piep)...». Die Schreiberin hatte sich geweigert, den Ausdruck schriftlich festzuhalten. Man müsse «endlich damit aufhören, uns Schweizer quasi als Schafseckel hinzustellen» und den Asylbewerbern alles zu erlauben, hatte der arbeitslose Bauingenieur ETH gepoltert.
Der öffentliche Ausbruch machte Gerber, der heute freiwillig für das Rote Kreuz Taxi fährt, über die Gemeindegrenzen hinaus bekannt. Insbesondere der Berner Bund hielt sich so lange über die «Unflätigkeit» des Kommunalpolitikers auf, bis dieser dem Ausschluss aus der Partei nur mit dem Austritt zuvorkam. Die einen beschimpfen ihn seither als «Nazi» und «Rassisten», die anderen klopfen ihm auf die Schultern. Seit seinem Weggang von der FDP im September hat Gerber mehrere Angebote von anderen Parteien erhalten, darunter sogar eines für einen Platz auf der Nationalratsliste. Auf der Strasse danken ihm Mitbürger, wenn niemand es sieht.
Auch wenn sich Gerber im Ton vergriff – er drückte aus, was viele Schweizerinnen und Schweizer empfinden: Sie fühlen sich von den Asylsuchenden ausgenutzt. Während sich die Öffentlichkeit über Schwarze empört, die sich auf den Strassen als Drogendealer betätigen, kämpfen die Behörden in den Kantonen und Gemeinden mit einem noch gravierenderen Problem: Sie leiden unter einem weitreichenden Versagen der eidgenössischen Asylpolitik.
Dass sich Schweizer Gemeinden gegen den Zustrom weiterer Asylsuchender sperren, ist ein bekanntes Phänomen. Neu ist, dass Behörden öffentlich die Missstände im Vollzug anprangern. So richtete der Gemeinderat von Oberuzwil einen offenen Brief an die St. Galler Bundesparlamentarier, auch wegen der 100000 Franken teuren Posse im Mai. Damals wollten zwei Kantonspolizisten einen abgewiesenen Asylbewerber aus Schwarzafrika im gecharterten Learjet ausschaffen. Doch am Ziel nannte der Mann, trotz Passierschein vom Honorarkonsul, plötzlich ein anderes Heimatland. Darauf wurde er in die Schweiz zurückgeflogen. Nach der Veröffentlichung des Briefes beantwortete Gemeindepräsident Cornel Egger einen Tag lang Anrufe und Mails auch aus anderen Gemeinden, alle mit demselben Tenor: «Endlich macht mal jemand etwas.»
Kritiker werden gemassregeltAufgrund dieser Erfahrungen regte Frey eine Aussprache mit den eidgenössischen Parlamentariern im Regionalverein Olten-Gösgen-Gäu an: Diese nahmen «Kenntnis von der allgemeinen Hilflosigkeit und Betroffenheit auf Stufe Gemeinde, von der stetig wachsenden Unruhe in der Bevölkerung und der teils offen geäusserten Feindseligkeit». Der freisinnige Ständerat Rolf Büttiker fasste seine Eindrücke in einer Zeitungskolumne zusammen, was ihm böse Reaktionen einbrachte. So warf ihm ein Pfarrer vor, er bestätige «dumpfe, in der Bevölkerung herumgeisternde und von den Rechtsparteien ausnutzbare Vorurteile». Wer «die Schwächsten der Gesellschaft» als Sündenböcke missbrauche, schrieb der Geistliche, schade vorab der eigenen Seele.
Ein Beispiel: Als ein Asylsuchender vom Balkan 1993 als 22-Jähriger in die Schweiz einreiste, wusste er nichts von der Geografie seines angeblichen Heimatlandes und schilderte immer wieder andere Fluchtwege. Nachdem ihm die Behörden, auch mittels aufwendiger Sprachtests, seine Lügen nachgewiesen hatten, erhielt er einen ablehnenden Bescheid. Auf Anraten eines auf Ansprüche an den Sozialstaat spezialisierten Büros, das eine jugoslawische Anwältin in Zürich betreibt, meldete er sich krank. Er verbrachte, obwohl der Vertrauensarzt kein physisches Leiden diagnostizieren konnte, wegen Schmerzen in Kopf und Nacken sechs Wochen in einer Reha-Klinik. 1995 heiratete er eine Asylsuchende, die ebenfalls mangels Papieren nicht ausgeschafft werden konnte. Als das BFF dem Kanton Thurgau befahl, ihn wegzuweisen, war die Frau schwanger. Mittlerweile hat sie fünf Kinder, und der inzwischen 31-jährige Mann ohne Papiere und Status bezieht als Invalider für sich und seine Familie monatlich 6180 Franken Unterstützungsgelder vom Staat.
Landesweit zählt das Bundesamt derzeit 27268 vorläufig Aufgenommene, die zwar kein Asyl bekommen, aber aus politischen oder persönlichen Gründen nicht zurückgeschafft werden können. Dazu kommen 12379 Weggewiesene, bei denen der Vollzug aussteht oder «technisch blockiert» ist. Über die Dunkelziffer lässt sich nur mutmassen. Das heisst: Mehr als 40 Prozent der 94000 Asylsuchenden halten sich offiziell in der Schweiz auf, obwohl nach zumeist jahrelangen Verfahren feststeht, dass sie kein Anrecht auf Asyl haben. Zusammengefasst: In der Schweiz bemühen sich Asylsuchende, Anwälte, Hilfswerke, Bundesamt und Asylrekurskommission gemeinsam um ein mustergültig rechtsstaatliches Aufnahmeverfahren – doch das Ergebnis ist oft ein rechtloser Zustand. Unterm Strich ergibt sich ein ernüchterndes Fazit: Noch ist die Schweiz als Asylland ausgesprochen attraktiv. Sie belohnt Verhaltensweisen, die den Verfahrensablauf verzögern. Sie hat zu wenig griffige Mittel, Wegweisungen durchzusetzen.
Lösungen allerdings sind nicht leicht zu finden. Das Bemühen der Behörden um eine Beschleunigung der Abweisungsverfahren, oft von linker Seite als zu extrem kritisiert, verfangen noch nicht: Seit August wird über aussichtslose Gesuche innerhalb weniger Tage in den Empfangsstellen entschieden. Doch nicht einmal zehn Prozent dieser Beschlüsse haben tatsächlich zur Wegweisung geführt, da sich vor allem westafrikanische Staaten weigern, ihre Bürger wieder aufzunehmen.So triumphiert nach wie vor der stärkste aller Anreize: Wer über die Empfangsstelle an der Landesgrenze hinauskommt, schafft es in die Schweizer Asylmaschinerie – und die belohnt jeden, der ihr Sand ins Getriebe wirft.
http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2002-4 ... n-fra.html