Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Hier ist Platz für wichtige Erklärungen, die nicht in die Programmdiskussion passen.

Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Ricarda » Di 5. Okt 2010, 18:57

Dieses Thema habe ich heute auf dem Portal Bürgermeinungen eröffnet:

Wie viele andere kämpfe ich als Selbstständige um meine Existenz. Dies habe ich nie verschwiegen und nie beschönigt. Es gibt bessere und schlechtere Zeiten. Immer wieder suche ich nach Perspektiven und neuen Möglichkeiten, aber ich habe es bisher für legitim gehalten, nicht scheitern zu wollen und selbstständig bleiben zu wollen.

In den letzten Monaten habe ich viele Gespräche geführt mit Personen, die mir wichtig und wertvoll sind, aber gerade bei einem Gesprächspartner habe ich zunehmend den Eindruck gewonnen, dass es mir als mangelnde Solidarität ausgelegt wird, einfach nicht scheitern zu wollen. Da wird öffentliches Zelebrieren von Gescheitertsein zur Ehrlichkeit, nicht öffentlich geführter Kampf um die eigene Existenz zur Lüge und Unwahrhaftigkeit und wohl auch zu mangelhafter Solidarität.

Ich sehe mich mit einer Vorstellung konfrontiert, die mich zunehmend runter zieht, und das nicht nur, weil idie Zeit für die mir so wichtigen Gespräche, die sich nach Stunden inzwischen im
mittleren dreistelligen Bereich bewegt, anderswo fehlt. Gespräche und Gesprächspartner waren und sind mir wichtig, aber ich fühle mich zunehmend in eine pessimistische und hoffnungslose Grundstimmung runter gezogen, die ich so nicht kannte, und die nichts damit zu tun hat, dass ich ein Leid und ein Unglück bei anderen sehe, dass ich bisher nicht kannte. Das Leid und das Unglück kannte ich, aber nicht diese Hoffnungslosigkeit, - dieses sich schuldig fühlen müssen, weil man noch Hoffnung hat und haben will.

Ich sehe mich als unsolidarisch abgestempelt, weil ich meine Probleme nicht öffentlich, sondern mit Vertrauten, mit Freunden, führen möchte – aber nicht solchen, die meine Probleme sozusagen anonym mit verfälschten Interpretationen in ihre eigenen Konstrukte einbauen und mir dann von diesen Gesprächen erzählen.

Ich bin verdächtig, weil ich einfach nicht scheitern möchte. Ich möchte nicht scheitern: ich möchte im Rahmen meiner Möglichkeiten weiter – so gut es geht – den Weg gehen, den ich bisher gegangen bin, meist gradlinig, mit manchen Fehlern, Irr- und Umwegen, manchmal traurig, manchmal desillusioniert, aber immer noch mit der Hoffnung auf eine bessere Welt, und im Rahmen meiner Möglichkeiten bereit, dafür zu kämpfen, aber nicht bereit, das was ich noch habe, aufzugeben, um in den Augen von Menschen, die mich – wohl unabsichtlich – zunehmend runterziehen, glaub- und vertrauenswürdig sein zu können. Nein, diese Glaubwürdigkeit will ich nicht. Der Preis ist mir zu hoch.

Eine Theorie, wonach sich dann, wenn viele ihr Scheitern zugeben und öffentlich zelebrieren, etwas ändern muss, die Gesellschaft umdenken muss, wird nach meinem Gefühl praktisch nicht funktionieren. Ich betreue eine Frau, die wütend ist, wenn ich ihre Probleme löse – z.B. die Bank dazu bringe, die Kontoüberziehung auszubuchen - , weil sie der Meinung ist, je größer die Katastrophe ist, desto größer ist die Glaubwürdigkeit ihrer Schilderungen. Sie gilt als geschäftsunfähig und schizophren. Wer ihre Schriftstücke und die Kopien, die sie zum Nachweis ihrer Ansprüche fertigt, gesehen hat, braucht die Diagnose nicht zu lesen, um das zu wissen. Selbst wenn 10 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung ihr Scheitern öffentlich machen, werden die übrigen 90 % bestenfalls darüber nachdenken, wie man die Gescheiterten am besten verwahrt und wohin man sie abschiebt. Nicht einmal diese Quote werden wir aber in absehbarer Zeit erreichen.

Meine Hoffnung war und ist ein Selbsthilfeprojekt, bei dem sich alle nach besten Kräften gegenseitig unterstützen, in dem sich Gleichgesinnte finden können, die Mehrgenerationen-Wohnprojekte oder andere Projekte verwirklichen können, wo bei Krankheiten geholfen wird, Einsame zusammenfinden, über bestehende Rechte aufgeklärt wird, Initiativen entwickelt werden (das Projekt „Ausschreibungen“ finde ich z.B. sehr gut), wo die bisher in vielen Foren verstreuten Informationen zu wichtigen Themen im Rahmen einer Datei nach Schlagworten umfassend zugreifbar werden, usw. usw. Wenn sich nicht einmal diese Solidarität herstellen lässt – wie soll es dann zwischen den Ausgregrenzten und den Ausgrenzern funktionieren? Diese Hoffnung muss ich jetzt erst mal wieder auf Eis liegen.

Und wie soll es gehen, wenn man die Kooperationsbereiten erst psychisch demontieren und zu sich runterziehen muss? Bevor die Vormundschaft für Erwachsene durch die Betreuung ersetzt wurde, war es üblich, die Leute erst mal in ihrer Geschäftsfähigkeit zu beschneiden. Faktisch ist Betreuung vielfach immer noch herabwürdigend, auch ohne diesen deklaratorischen Akt.

Möglicherweise liegt es in der menschlichen Natur, Menschen erst mal für die eigenen Ziele und die eigenen Vorstellungen passend machen zu wollen – koste es, was es wolle.
Ricarda
 

Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Sall May » Di 5. Okt 2010, 19:08

Was hindert den Menschen daran es mal mit der Wahrheit zu versuchen? Wie will man Misstände aus der Welt schaffen wenn man diese kaschiert? Kaschiert und nicht in der Lage ist eigene Befindlichkeiten zuzugeben?

Vielleicht scheitert alle Solidarität zur Zeit daran, das man eben genau das nicht kann, den Umgang mit der Wahrheit und den eigenen Befindlichkeiten?

Ich finde es von vielen Menschen als sehr befremdlich, dass sie unter der Bettdecke weinen aber dann über Tag meinen etwas anderes nach Außen tragen zu müssen? Genau das erleben wir derzeit jeden Tag und das bringt niemanden aus dem persönlichen, seelischen, wirtschaftlichen oder sonst was für ein Loch. Wahrheit schafft Klarheit. Man kann sich dann auf Umstände einstellen die Fakt sind.

Wie sollen wir, sollten andere, sollte ich etwas verändern wollen mit einer aufgesetzten Wahrheit? Genau das wird hier und heute, morgen und übermorgen nicht funktionieren.

Wenn wir an dem Punkt ankommen würden, wo wir persönliches Schicksal nicht mehr als scheitern ansehen würden, wären wir alle insgesamt einen Schritt weiter. Weil, wenn etwas nicht mehr niedergemacht werden kann, was nicht nieder zu machen ist weil man es anerkennt, dann wären wir auf dem richtigen Weg zur Solidarität.

Das Thema hier finde ich sehr interessant, werde mich aber künftig auch, wenn überhaupt nur noch selten äußern.

Eine Frage in die Allgemeinheit gestellt hätte ich noch: Was nützt die schönste Fassade wenn dahinter alles kaputt ist?

Fassaden erhalten um der Umwelt dem/den Anderen etwas vorzuspiegeln kann sicher nicht richtig sein. Kann nicht richtig sein, ist nicht richtig, denn es führt in die Irre. Dem anderen die Hand reichen oder entziehen, alles unter dem Argument der Wahrheit wie z. B.: Hier kann ich nicht mehr, wäre das scheitern oder einfach nur ehrlich?
Sall May
 

Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Sall May » Di 5. Okt 2010, 19:08

Anmassung, als solche würde ich es z. B. bezeichnen wollen ohne Personen persönlich zu meinen, Ängste, Traurigkeiten ganz einfach natürliche Befindlichkeiten zu unterdrücken. Oder gar noch in dem Wissen das es so ist und das es diese Form der Unterdrückung gibt, weiterhin dummsinnigen Frohsinn zu verbreiten. Noch schlimmer ist es mit Schicksal Geld verdienen zu wollen solange es den geht, das tun auch etliche in der heutigen Zeit. Auf Ehrlichkeit, auf das Leid anderer zu treten oder daraus gar noch meine profitieren zu müssen, das ist himmelschreiendes Unrecht. Doch werden wir das jemals mehrheitlich hinbekommen zu erkennen
Sall May
 

Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Ricarda » Di 5. Okt 2010, 19:10

Solange "es mit der Wahrheit versuchen" hier gleichgesetzt wird mit "aufgeben und das eigene Scheitern öffentlich machen", werden wir nicht zu einer gemeinsamen Ebene kommen, auf der wir eine Diskussion führen können.

Keiner ist verpflichtet, seine Probleme in der Öffentlichkeit breitzutreten, das hat nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Denn - nochmal - selbst wenn 10 oder 20 % das täten, würde der Rest sich um so entschiedener abwenden, weil die sich dann offenbarende Gefahr eines Abgleitens noch stärkere Distanzierung und Ausgrenzung erfordert.

Wir sind nicht bei "wünsch Dir was" sondern in der Realität, egal, wie sehr wir uns da raus wünschen.
Ricarda
 

Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Sall May » Di 5. Okt 2010, 19:10

Richtig wir sind nicht bei wünsch Dir was. Doch jeder Mensch sollte, so war es mal im GG verankert, frei leben können dürfen. Wenn man das aber nicht im realen Leben umzusetzen vermag dann brauchen wir solche Gesetze nicht mehr. Nach was sollen die Menschen künftig leben, nach der Lüge die andere als Wahrheit erheben. Oder akzeptieren das selbst Verfassungen unterwandert werden, von den Organen die angeblich die Verfassungen aufrecht erhalten? Hier trennt sich tatsächlich die Spreu vom Weizen, wobei vielleicht viele mit diesen Begriffen nichts mehr anfangen können, sie haben es dann nicht gelernt. Sie werden aber sehr wohl wissen das die Kuh lila ist?
Sall May
 

Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Sall May » Di 5. Okt 2010, 19:11

Übrigens was ist scheitern? Etwas für das man selber gar nicht mehr kann, aber es für richtig hält?

Scheiteren die Menschen denen ich ein Sieb in die Hand gebe und den Befehl erteile sie mögen das Meer leer schöpfen? Oder die, die das Sieb nicht mehr bereit sind in die Hand zu nehmen und den schwachsinnigen Auftrag anzunehmen? Ich würde raten unter das Sieb eine Folie zu bringen damit das Wasser nicht durchläuft, oder noch besser denen die das Sieb verteilen es zurück zu geben. Vielleicht auch schwer zu verstehen was ich meine, vielleicht aber begreifen es einige.
Sall May
 

Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon AlexRE » Di 5. Okt 2010, 19:13

Ricarda hat geschrieben:Solange "es mit der Wahrheit versuchen" hier gleichgesetzt wird mit "aufgeben und das eigene Scheitern öffentlich machen", werden wir nicht zu einer gemeinsamen Ebene kommen, auf der wir eine Diskussion führen können.


Das ist immer so, wenn grundsätzliche bzw. allgemeingültige Fragen personalisiert werden. Das erschwert oder vereitelt jede konstruktive Diskussion. Die Entwicklung pragmatischer und zielführender Lösungsansätze ist so jedenfall ganz sicher nicht möglich.
Der Stuttgarter OB Rommel:

Ich trete überall, wo das notwendig ist, der Meinung entgegen, der Umstand, dass die Diktatur zu allem fähig war, berechtige dazu, die Demokratie zu allem unfähig zu machen.
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Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Sall May » Di 5. Okt 2010, 19:35

Alex wie soll man das jetzt verstehen? Wenn einer in Not lebt soll, er Distanz zur eigenen Not nach außen leben um sich und anderen zu helfen?

Irgendwie scheint mir die Diskussion langsam aber sicher, wie würden es Experten nennen so sie welche sind?, schwer aus dem Ruder gelaufen wenn nicht gar schizophren. Letzeres scheint unsere heutige Gesellschaft zu sein? Das eigene Problem verdrängen, bloß nicht wahrhaben aber das breite Volk belehren? Gab es das nicht schon öfter? Wer Hunger hat soll Kuchen essen, wenn er den nicht bekommen kann, was dann? Realität und Akzeptanz bekommt man auf keinen Fall mit Verdrängung hin.
Sall May
 

Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon AlexRE » Di 5. Okt 2010, 19:39

Sall May hat geschrieben:Irgendwie scheint mir die Diskussion langsam aber sicher, wie würden es Experten nennen so sie welche sind?, schwer aus dem Ruder gelaufen wenn nicht gar schizophren.


Das scheint mir auch so.

Ich schrieb, dass man mit grundsätzlichen Themen nicht konstruktiv umgehen kann, wenn man sich völlig sinnlose persönliche Angriffe nicht verkneifen kann oder will.

Substantiiert begründete Auffassungen anderer Leute als "Anmaßung" zu bezeichnen, steht der Entwicklung einer fruchtbaren Diskussion auch dann entgegen, wenn man die Floskel "ohne Personen persönlich zu meinen" hinzufügt, wenn offenkundig ist, wer gemeint ist.
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Re: Solidarität d. Scheiterns? Pflichtübung Scheitern?

Beitragvon Sall May » Di 5. Okt 2010, 19:58

Menschen sind persönlich, denn es geht jedem, wirklich jedem um sich selber, das ist auch irgendwie ok, solange man es nicht auf dem Rücken oder profitabel der anderen austrägt. Menschen was anderes auch aus der nicht vorhandenen Distanz einreden zu wollen ist, ja was ist es?, die Dummheit der Unendlichkeit die Einstein uns schon zu erklären versuchte?

Alles in Allem, mich wird man nicht mehr zu Diskussionen hinreißen die weder anderen noch mir etwas bringen. Diese Entscheidung darf man dann hoffentlich noch selber treffen?
Sall May
 

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